Faszien – ein offenes Geheimnis in der Osteopathie
17. November 2022
Andrea Wendler
Heilpraktikerin, Physiotherapeutin, Osteopathin
Wie und wann kann Osteopathie mir weiterhelfen? Als ganzheitliches Heilverfahren ist die Antwort sehr umfassend, denn die Behandlung unterstützt grundsätzlich den Menschen darin, wieder eine freie Selbstregulation zu etablieren und dadurch gesund zu werden. Dabei kann mit jedem Gewebe des Körpers gearbeitet werden. Dazu gehören Knochen, Muskeln, alle Organe, das Nervensystem, Gefäß- und Lymphsystem und die Faszien, die alles miteinander anatomisch verbinden.
„Wenn man mit den Faszien arbeitet, behandelt man die Zweigstellen des Gehirns; und nach den allgemeinen Geschäftsregeln haben die Zweigstellen gewöhnlich die gleichen Eigenschaften, wie die Zentrale. Also warum sollte man die Faszien nicht mit dem gleichen Maß an Respekt behandeln wie das Gehirn selbst.“ (Andrew Taylor Still, Begründer der Osteopathie, 1899)
So waren die Überlegungen von A.T. Still gewissermaßen der damaligen Medizin weit voraus. Von Faszien war jahrhundertelang in der Forschung kaum die Rede. Sie fanden beispielsweise in anatomischen Preparationen kaum Beachtung. Die Faszien wurden sogar bewusst weggeschnitten, um den Studierenden die „wichtigen“ Gewebsstrukturen, zum Beispiel Organe, zeigen zu können.
Doch was genau sind Faszien nun eigentlich? Was macht sie so wichtig in unserem Körper? Der Name stammt aus dem Lateinischen von „fascis“, was Bund, Bündel oder Verbund bedeutet. Sie durchziehen als bindegewebige Hüll- und Unterteilungsschichten den gesamten Körper. „Die Faszie vereint und trennt alles, trennt und vereint alles.“ (L. Isaartel)
Alle kollagenen und elastischen Bindegewebe, Gelenk- und Organkapseln, Bänder, Muskelhüllen, Membranen – wie zum Beispiel die Hirnhäute -, Sehnen und alle flächigen und festen Bindegewebsschichten sind Faszien. Ihre Vielfalt ist groß. Die oberflächlichen Faszien umhüllen uns wie ein Taucheranzug von Kopf bis Fuß, die tiefliegenden Faszien umhüllen unsere Knochen, Organe, das Rückenmark und vieles mehr. Faszien können sich wie eine derbe Lederhaut anfühlen bis hin zu einem feinen spinnennetzartigen Gewebe.
Faszien sind aus mehreren unabhängigen Schichten aufgebaut, die übereinander liegen und nicht parallel verlaufen, sonder in unterschiedlichen Richtungen ausgerichtet sind: vertikal, horizontal und schräg – insgesamt also spiralförmig.
Bei Kontraktion drücken sie die Strukturen, die sie umhüllen, wie einen Wischlappen, den man auswringt, zusammen. Somit befördern sie Flüssigkeiten wie Lymphe oder venöses Blut herzwärts. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass körperliche Bewegung unbedingt notwendig ist für ein gutes Funktionieren.
Lymphgefäße und Venen können umgekehrt auch abgeschnürt werden, wenn sie an den Durchtrittsstellen durch zu starke Spannungen in den Faszien eingeengt werden. Besteht dies über längere Zeit, können Wassereinlagerungen in den Beinen oder Krampfadern die Folge sein. Faszien besitzen wie Muskeln vereinzelt Zellen, die die Fähigkeit haben sich zusammenzuziehen. Bei psychischem Stress oder einem starken Stoß kann die Faszie mit Verhärtung und Verlust der Elastizität reagieren. Langfristig kann dies zu Verklebungen führen. Auch der Wassergehalt im Gewebe nimmt ab, denn tatsächlich sind gesunde Faszien ein enorm „flüssiges“ Gewebe. Viel Wasser zu trinken fördert das optimale Funktionieren.
Die Fasziendehnbarkeit ist regional unterschiedlich. Faszien, die als Aufhängung der inneren Organe, wie zum Beispiel des Magens, dienen, sind fest, aber nicht zu stark fixiert. Das gewährleistet einen guten Halt an Ort und Stelle im Bauchraum, wobei der Magen sich trotzdem noch beweglich anpassen kann. Muskelfaszien sind sehr viel fester und widerstandsfähiger, weil sie sich kaum verformen, sie sind eine stützende Auflagefläche für Muskeln. Faszien dämpfen auch Stöße ab und können eine auftreffende Kraft durch die Weiterleitung der Spannung in ihren Fasern verteilen. Durch die Kraftübertragung schützen sie Organe vor einem Zerreißen oder Platzen, sie schützen Knochen vor Brüchen oder auch das Gehirn vor Erschütterungen. Dabei spielen zudem die Flüssigkeiten, wie das Hirnwasser, eine große Rolle.
Die meisten denken, unser Körper ist in etwa strukturiert wie ein Haus, alle Körperteile sind aufeinander gestapelt, der Kopf auf dem Hals, der Hals auf den Schultern, usw. Das ist jedoch eine gänzlich falsche Vorstellung: Unsere Knochen „schwimmen“ oder „schweben“ innerhalb des faszialen Systems wie in einem Meer von Spanngurten! Unsere Körperhaltung wird hauptsächlich von den Faszien aufrechterhalten. Sie bilden im Zusammenspiel mit den Knochen ein perfektes Zug- und Drucksystem, was unabhängig der Schwerkraft funktioniert. Unser Körper funktioniert auf dem Land, im Wasser und sogar im Weltall
– ganz im Gegensatz zu einem gestapelten Bauklötzchen-Haus. Während Faszien das zuständige Element für die (Aufrecht-) Erhaltung und Kraftübertragung ist, sind Muskeln das motorische Element, das unseren Körper in Bewegung versetzt. In der Architektur gibt es ebenfalls ein entsprechendes statisches Modell, was sich „Tensegrity“ nennt.
Noch einmal zurück zur Osteopathie: Im Laufe des Lebens verringert sich die Elastizität dieser Gewebe. Belastungen führen zu Verdickungen, Verkürzungen und Verhärtungen. Auch Unfälle führen oft zu schlagartiger Verfestigung von Faszien.
Da auch viele Nervenendigungen, die Schmerzsignale senden, in den Faszien vorhanden sind, kann dies der Grund für Schmerzen sein. Das können Kopfschmerzen, Bauch-, Rücken-, Beinschmerzen und vieles mehr sein. Eben überall dort, wo sich Faszien im Körper befinden. Als Osteopath*innen erspüren wir, welche Faszienstrukturen im Körper der oder des Behandelten besonders unter Spannung stehen und Leid verursachen. Mit unseren Händen nehmen wir Kontakt zu dem Gewebe auf und unterstützen es sanft und effektiv, wieder seinen ursprünglichen gesunden Zustand zu erreichen. Die Spannung in den Faszien lässt nach und es gibt wieder Raum für die gesunde Regulation des Körpers, wodurch die Symptome verschwinden können.